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Das Buch "Stramm" 2. Auflage (Geschichte der Industriearbeit) ist im Buchhandel in Wien erhältlich:

Brigitte Salanda, a.punkt € 18,- bis 30.5. ab 31.5 21 Euro)

 

Ab Dienstag 19.05.2020

 

Di–Fr 11–18:30 Uhr, Sa 10–17 Uhr

 

01 532 85 14

 

Fischerstiege 1–7
A–1010 Wien

 

 

 

tiempo nuevo € 18,- bis 30.5. ab 31.5 21 Euro)

 

mo – fr von 10 – 18 uhr, sa 10 – 15 uhr.
taborstrasse 17A
1020 wien

 

 

 

Libreria Utopia € 18,- bis 30.5. ab 31.5 21 Euro)

 

Ab Mittwoch 20.05.2020

 

Mi–Fr 14–18, Sa 12–16 Uhr

 

Preysinggasse 26 - 28/1

 

U3 Schwenglerstraße, Ausgang Stättermayergasse

 

0660 3913865

 

1160 Wien

 

 

 

Rotes Antiquariat Wien € 18,- bis 30.5. ab 31.5 21 Euro)

 

Ab Dienstag, 19.5.20, zwischen 15 und 19 uhr

 

Florianigasse 36

 

Di, Do, Fr 15–19, Sa 11–16 Uhr

 

rote.galerie.wien@gmx.at

 

01 4023762

 

1080 Wien

 

 

 

Lhotzkys Literaturbuffet  € 18,- bis 30.5. ab 31.5 21 Euro)

 

Ab Dienstag 19.05.2020

 

Di-Fr 13:00-18:00 Sa 9-13 Uhr

 

06991 5851668 / 01 2764736

 

Rotensterngasse 2

 

1020 Wien

Stramm - Soziologische Einblicke in eine monoton vielschichtige Erzählung

 

Manfred Krenn

 

Einleitung

 

Ich möchte zu Beginn meiner Ausführungen ein paar Worte zur sehr speziellen und man könnte auch sagen einigermaßen glücklichen Fügung der heutigen Konstellation verlieren. Diese besticht nämlich durch ungewöhnlich hohe Schnittmengen der drei an dieser Präsentation beteiligten Personen - auch wenn das äußerlich nicht auf den ersten Blick dechiffrierbar ist. Es handelt sich aber um eine für den Inhalt des heutigen Diskussionsgegenstandes - das Buch von Werner Lang- höchst bedeutsame Übereinstimmung.

 

Wir alle drei stammen nämlich nicht nur aus dem selben Ort Mürzzuschlag, zu dem auch der eingemeindete Vorort Hönigsberg gehört, sondern unsere soziale Herkunft und unsere Biografie ist auf unterschiedlich intensive, aber doch für alle sehr prägende Weise mit dem "Werk", wie das Stahlwerk der Vereinigten Edelstahlwerke (VEW), einer der zentralen Schauplätze im Leben Stramms und zentraler Gegenstand der Fotos vom Gü - im Mürzer Volksmund schlicht genannt wird, verknüpft. Man könnte sogar sagen, ohne das Werk ist das, was aus uns geworden ist, nicht zu verstehen, nicht richtig jedenfalls. Allerdings hat die Welt der Fabrik und ihr Regime, die uns über das Werk heimgesucht haben, bei jedem von uns auf eine je eigene und spezifische Weise interveniert und auch unterschiedliche tiefe Spuren bzw. Narben hinterlassen.

 

Wir kommen alle drei aus Arbeiterfamilien, die vom Werk gelebt haben, weil unsere Eltern in der Fabrik gearbeitet haben. Insofern reichte der Arm des Werks, vermittelt über die Erwerbstätigkeit unserer Eltern, bereits in unsere frühesten Kindheitstage hinein. Das Werk . war auf diese Weise unsichtbar aber ständig in unserer Lebenswelt präsent. Obwohl die statistische Wahrscheinlichkeit sehr hoch war, dass das Fabrikregime, dessen Verheerungen Stramm so eindringlich und eindrücklich beschreibt, auch unsere Zukunft darstellt, haben wir dennoch sehr unterschiedliche Lebenswege genommen.

 

Ich selbst konnte mich, nicht zuletzt durch das Zusammenspiel mehrerer günstiger/glücklicher Faktoren, am frühzeitigsten und umfassendsten von diesem uns unserer sozialen Herkunft wegen drohenden Schicksal befreien. Aber auch bei mir spielte das Werk auf meinem mehr als dornigen gymnasialen Weg zur Hochschulreife eine entscheidende, ja weichenstellende Rolle. In der fünften Gymnasialklasse war ich durch zwei Nachprüfungen in Latein und Mathematik vom endgültigen Aussortieren bedroht. Außerdem war ich auch mental weichgeklopft und bereit, die höchst mühsame und aufreibende Schulkarriere zugunsten einer, wie mir meine mopedfahrenden und im Vergleich zu mir deutlich wirtshauskonsumpotenteren Freunde täglich vor 'Augen führten, unmittelbar lukrativeren Lehrlingslaufbahn hinzuschmeißen. Die Beendigung des Schuljahres bot wenig Spielraum für Optimismus, dafür aber jede Menge und mit resignativen Gefühlen. In diesem wendepunktträchtigen Moment meiner Biografie trat ich aber in den Ferien erstmals den schon zuvor fixierten einmonatigen Ferialjob im Werk an. Die dort gemachten Erfahrungen versetzten mir einen derart radikalen und wie sich herausstellen sollte heilsamen Realitätsschock. der mich einen Teil meiner Ferial-Einkünfte umgehend in eine Mathematiknachhilfe investieren ließ. In einer Mischung aus intensiv und mit fabrikerfahrungsgesättigter Motivation angeeigneten Mathematikenntnissen und einer gehörigen Portion wie wir damals sagten „Dodelsau", schaffte ich - against all odds - beide Nachprüfungen und konnte so den drohenden Schulabbruch abwenden. Wer weiß, wie mein weiterer Lebensweg verlaufen wäre, hätte ich damals die Abzweigung ins Werk genommen bzw. nehmen müssen.

 

Der Gü - ich darf ihn ungestraft so nennen, weil wir als im selben Haus aufgewachsene Nachbarn (er im ersten Stock, ich im Parterre) gemeinsam Munitionsexpeditionen ins Tiafe Toi auf der Suche nach Relikten aus dem Zweiten Weltkrieg unternahmen, voll experimentierfreudiger Neugier Usalzgefüllte Metallgehäuse zur Explosion brachten und andere Leichtsinnigkeiten jugendlichen Übermuts miteinander teilten. Also der Gü hatte da schon weniger Glück als ich. Er schaffte es nicht. den für Kinder aus Arbeiterfamilien vielfaltig aufgestellten, mit dem Anschein von Objektivität und Sachlichkeit versehenen und damit gleichzeitig legitimierten sozialen Fußangeln und Aussiebmechanismen des Gymnasiums zu entkommen. Auf Grundlage einer solchen fiktiven Neutralität in die Hauptschule relegiert, geriet er in den unwiderstehlichen Sog jenes sozialen Trichters, der die Kinder in der aus Arbeiterfamilien in der Regel ins Werk und unter das Fabrikregime spült, um den für sie prädestinierten, also den für sie vorbestimmten Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie einzunehmen. Mit der Elektrikerlehre schien auch für ihn der Eintritt in eine lebenslange Werkskarriere besiegelt. Er widersetzte sich aber nicht nur seinem vorgezeichneten sozialen Schicksal in dem er das Werk und auch Mürzzuschlag verließ, er besaß darüber hinaus auch noch die besondere Chuzpe als gelernter Betriebs- oder Werkselektriker in den sakralen Sozial-Raum der Kunst einzutreten. Er entkam also auf eine der denkbar unwahrscheinlichsten und gleichzeitig dreistesten Weisen dem Arbeiterschicksal und dem Fabrikregime.

 

Bleibt schließlich der Dritte in unserem etwas seltsamen aber doch mit gehörigem historischem Optimismus ausgestatteten Bunde, der Hauptprotagonist des heutigen Abends und damit jener, der vom Moloch Werk und seinem Fabrikregime deutlich am längsten. nämlich den überwiegenden Teil seines bisherigen Lebens verschlungen und malträtiert wurde. Als tragisches biografisches Glück oder paradoxe Fügung erscheint aber der Umstand, dass er letztlich diesem seinem sozialen Schicksal vor der Zeit nur durch die Entrichtung eines relativ hohen Tributs entrinnen konnte - er verlor in der Fabrik drei Finger. was ihm die sozial ratifizierte und abgesicherte Flucht in die Berufsunfähigkeitspension ermöglichte. Paradox ist sie deshalb, weil gerade der Verlust von drei Fingern bei Werner zu einem rapiden Anstieg der Produktivität seiner literarischen Schreibtätigkeit führte. Darüber hinaus ist es gewissermaßen eine Ironie des (sozialen) Schicksals, dass wir gerade dem Umstand, dass Werner über dreissig Jahre dem Fabrikregime unterworfen war, den Glücksfall des heute hier vorzustellenden Buches verdanken.

 

Glücksfall deshalb, weil das Buch einer der wenigen authentischen Berichte aus dem Innern dieses Molochs darstellt, und damit eines gesellschaftlichen Bereichs, von dem die Öffentlichkeit kaum Notiz nimmt, an dem sie auch wenig Interesse findet und von dem sie keine Ahnung hat. Werner hat sich mit diesem Buch aber auch über die soziale Verurteilung zur Sprachlosigkeit in der Öffentlichkeit, die Arbeiterinnen über ihre Reduzierung auf Handarbeit eingebläut wird, hinweggesetzt, indem er sein Innerstes als Arbeiter nicht nur nach außen gewendet hat. sondern dies auch noch in die Form des literarischen Ausdrucks gegossen hat, also in die ureigenste Domäne der bildungsbürgerlichen Sprachkünstler. die ihre Kunst im virtuos-spielerischen Umgang mit der legitimen Schriftsprache schon mit der Muttermilch im sozialen Milieu ihrer Herkunft eingesogen haben, und daraus auch das Privileg auf das Monopol ihrer kunstvollen Handhabung ableiten. Welch grandiose Anmaßung! Er hat damit aber Zeugnis abgelegt, worüber in der Regel der Mantel des verordneten Schweigens gebreitet wird: nämlich welche Verheerungen auch in den sich ihrer Offenheit und Toleranz rühmenden Wohlfahrtsgesellschaften des globalen Nordens die Zurichtung der Arbeiterinnen auf die Rigiditäten des Fabrikregimes in und an ihnen anrichten.

 

Auch wenn das jetzt eine einigermaßen lange Einleitung war, die überdies uns dreien gewidmet war, so schien sie mir notwendig und legitim nicht nur weil sie den raren Glücksfall unserer sehr persönlichen und sehr tiefen Involviertheit in die heutige Präsentation und seinen Gegenstand deutlich macht, was mich wirklich freut. In unseren Lebensgeschichten und Ihren Verläufen wird auch bereits unmittelbar der Inhalt des Buches von Werner verhandelt.

 

Ich habe mich sehr gefreut, dass die bei den auf mich zugekommen sind, mit der Bitte eine Einleitung, einen Kommentar zum mit Gü's Fotos verfeinerten Buch von Werner zu halten. Dies nicht nur weil ich mit Gü aufgewachsen und mit Werner seit langem befreundet bin und uns deshalb auch eine gemeinsame persönliche Geschichte verbindet. Nein, in einem allgemeineren Sinn auch deshalb, weil mir das auch die Möglichkeit gibt eine vorsichtige Antwort auf die rhetorisch gemeinte Frage zu versuchen, die in meinem Herkunftsmilieu, also dem Arbeitermilieu. immer wieder bei verschiedenen Anlässen mit feinem vorwurfsvollem Unterton ventiliert wurde, "Na. za wos homma di studian Iossn".

 

Da ich kein Literaturwissenschafter bin. sondern Soziologe, möchte ich also versuchen, einige Fragen und Aspekte aus Werner's Text herauszugreifen, die mir aus soziologischer Perspektive interessant erscheinen und die auf die hohe gesellschaftliche Relevanz des Buches verweisen

 

 

 

Rigidität des Fabrikregimes

 

Zunächst möchte ich die Aufmerksamkeit auf einen eben schon angedeuteten Aspekt lenken. Einer der Verdienste des Buches ist, dass die Schilderungen und teilweise auch verwinkelten Gedankengänge Stramms uns den Zugang zu einer Welt ermöglichen, über die in der öffentlichen oder veröffentlichten Welt wenig bekannt ist. Auch die sehr verdienstvollen Arbeitskreise Literatur der Arbeitswelt. die überdies ihre Hochblüte in den achtziger Jahren erlebten, konnten diesen Umstand nicht wirklich ändern. Ich hatte das Privileg als Arbeitssoziologe in verschiedenen Forschungsprojekten unzählige (zumeist biografische) Interviews mit (Fabriks) ArbeiterInnen führen zu können, weshalb ich mich einigermaßen befugt fühle, darüber zu reden. Ich möchte also zunächst die Besonderheiten dieser Welt der Fabrik in den Blick und damit in den Fokus unserer Aufmerksamkeit rücken. Denn wir machen uns häufig keine Vorstellung davon, dass in unserer Gesellschaft Bereiche existieren, in denen die Realität mehr oder minder stark von unseren Normalitätsvorstellungen also von dem, was wir als selbstverständlich erachten, abweichen.

 

Ulrich Beck hat die Industriegesellschaft als halbierte Moderne bezeichnet und damit gemeint, dass die Prinzipien der Moderne, also Demokratie, Autonomie, Individualisierung. um jetzt nur die für diesen Zusammenhang wichtigsten zu nennen, nicht, wie allgemein angenommen, in der gesamten Gesellschaft Geltung haben, sondern Zonen existierenden, in denen noch ständische, an den Feudalismus erinnernde Prinzipien vorherrschen. Er hat in diesem Zusammenhang auch er von der halbierten Demokratie gesprochen und damit die Arbeitswelt gemeint.

 

In den bürgerlich-parlamentarischen Demokratien bildet die Arbeitswelt eine Sphäre, in der die Bürgerrechte sowie die demokratische Teilhabe an Entscheidungeneng begrenzt bleiben. Im Vergleich zu den in unserer Gesellschaft herrschenden und verfassungsmäßig verankerten Rechten stellt der Betrieb selbst in unserer weit fortgeschrittenen und ausgebauten Arbeitsgesetzgebung einen besonderen Raum dar. Durch den individualrechtlich abgeschlossenen Arbeitsvertrag wird eine persönliche Abhängigkeit des Arbeitnehmers/der Arbeitnehmerin vom Arbeitgeber konstituiert und rechtlich legitimiert. die sich in der Unterwerfung unter das einseitige Weisungsrecht manifestiert. Die Arbeitswelt und damit ein wesentlicher Kernbereich unserer Gesellschaft stellt eine Sphäre dar, in der die Vollständigkeit demokratischer Rechte nicht gilt. Die über den Arbeitsvertrag konstituierte Begrenzung und Beschneidung der persönlichen Freiheit stellt gewissermaßen den rechtlichen Kern der Absicherung betrieblicher Herrschaft und damit der Verfügungsgewalt von Menschen über Menschen da.

 

Das bedeutet, dass der ArbeitnehmerInnenstatus nicht mit dem Bürgerlnnenstatus übereinstimmt. Diese Differenz zwischen Fabrikregime und übriger gesellschaftlicher Sphäre, dieser verweigerte, eingeschränkte Bürgerstatus wird auch von Stramm nicht nur ständig am eigenen Leib erfahren, sondern schmerzt ihn auch unablässig. Stramms Geschichte macht darüber hinaus aber noch etwas deutlich: Selbst die gesetzlich eingeschränkte betriebliche Mitbestimmung über die repräsentative Vertretung der Interessen der Beschäftigten durch gewählte Betriebsräte kann mit zutiefst undemokratischen Praktiken gegen politisch unliebsame ArbeiterInnen einhergehen und damit pervertiert werden.

 

Rufen wir uns noch einmal die historischen Rahmenbedingungen von Stramms Beschäftigung im Werk in Erinnerung. Österreich hatte erstmals nach dem 2. WK. eine sozialdemokratische Regierung. der Aufbau des Wohlfahrtsstaates wie wir ihn heute (noch) kennen und der, wie es Burkhard Lutz nannte, "kurze Traum immer währender Prosperität" (in den 30 Jahren nach 1945) beförderte auch die Illusion, dass die sozialdemokratische Variante - also die Zähmung des Kapitalismus den Königsweg fortschrittlicher gesellschaftlichen Veränderung schlechthin darstellt. In dieser gesellschaftlichen Konstellation schien auch die-Macht der Betriebsräte, v.a. der sozialdemokratischen. v.a. in der verstaatlichten Industrie. v.a. unter einer sozialdemokratisch geführten Regierung ins schier Unendliche zu Wachsen. Der damit einhergehende Monopolanspruch auf die Vertretung der ArbeiterInnen und die Konstruktion der verstaatlichten Betriebe gewissermaßen als sozialdemokratischer closed shop haben nicht nur paternalistisch-autoritäre Politikmuster aus geformt sondern für widerständige Arbeiterlnnen und auch Sanktionen bis zur Entlassung nach sich gezogen.

 

Ich kann und will mich zwar nicht ungefragt in: Werners Roman drängen, möchte aber als persönliche Anekdote anfügen, dass ich als Student vor dem Werktor flugblätterverteilend gegen diese undemokratischen Praktiken der sozialdemokratischen Betriebsratsmehrheit und Konkret gegen die Versetzung bzw. Entlassung Stramms und der übrigen Arbeiter protestiert habe.

 

Fabrikregime und Lebenschancen

 

Ich möchte als zweiten Aspekt auf jenen Punkt eingehen. der mir als einer der zentralen des Buches erscheint. nämlich die Zurichtung der Arbeiter, ihre Ein- und Anpassung in das überaus restriktive Gefüge industriell organisierter Produktionsprozesse. In Stramms Schilderungen springen einen nachgerade all jene Aspekte aus dem Text unverblümt und direkt ins Gesicht, die auch in der kritischen Industriesoziologe als charakteristisch für Fabrikarbeit gelten. Es geht dabei um ökonomischen Zwang, um körperlichen Verschleiß, um Entleerung und Entfremdung der Arbeit, um Unterdrückung von Kommunikation und Interaktion im restriktiven Kooperationsgefüge der industriellen Produktionsprozesse, um Konkurrenz und Leistungsdruck. Es sind vor allem die kapitalistischen Prinzipien der Gewinnmaximierung und Mehrwertproduktion, die auf eine intensive und lückenlose Nutzung der Arbeitskraft hinauslaufen. Auch wenn dies gerade im verstaatlichten Stahlwerk stellenweise gebrochen bzw. abgeschwächt werden konnte, so konnte dies den grundsätzlichen Charakter des Fabrikregimes nicht entscheidend ändern, denn schließlich operiert auch das verstaatlichte Unternehmen auf einem kapitalistischen Markt. D.h. auch in der Verstaatlichten Industrie erforderte Fabrikarbeit eine starke individuelle Einschränkung und Anpassung in zeitlicher, örtlicher und koordinatorischer Hinsicht

 

Ich möchte in diesem Zusammenhang auf jenen Aspekt näher eingehen, der so eindringlich und penetrant aus Stramm's Lebensgeschichte hevorsticht. Nämlich was diese Zurichtung Anpassung, Disziplinierung und Unterwerfung, die das Fabrikregime den ihm Unterworfenen abverlangt, in den Individuen, in den Menschen selbst anrichtet. Und ich möchte dies in biografischer Perspektive tun, also was dies für die Biografie von Menschen, für ihre Chancen zur Ausbildung ihrer Potentiale, zur Entwicklung vielfältiger Fähigkeiten und Fertigkeiten im Lebensverlauf bedeutet.

 

Denn Stramms Erzählung macht sehr unmissverständlich und eindrücklich ein eminent soziales Faktum deutlich, dessen Auswirkungen in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden kann: In Wirklichkeit können wir das reale Ausmaß und seine Effekte auf das Leben von einzelnen Menschen kaum abschätzen. Nämlich welch fundamentalen Unterschied-es für das Leben eines Menschen macht, ob er oder sie sein Leben - noch dazu in der unglaublich wichtigen Phase des Heranwachsens - bis Mitte seiner/ihrer. zwanziger Jahre im Bildungssystem verbringen kann oder ab seinem fünfzehnten Lebensjahr den Zumutungen und Restriktionen des Fabrikregimes unterworfen ist. Uns, die wir gewissermaßen aus erster Hand und am eigenen Leib wissen und erfahren konnten,--was der-Genuss einer langen Bildungskarriere für unsere persönliche Entwicklung bedeutet hat, geben Stramms Erfahrungen ein überaus lebendiges Anschauungsmaterial und konkrete Bewertungskriterien zur Hand, um das Ausmaß des biografischen Privilegs dem Fabrikregime entronnen zu sein und die Kluft der darin enthaltenen sozialen Ungleichheit abschätzen zu können.

 

Wir sprechen in der Soziologie von Vergesellschaftung und verstehen darunter den Prozess, der aus Individuen Gesellschaftsmitglieder macht. In diesem unausweichlichen Prozess, der uns erst als soziale Wesen konstituiert existiert ein Spannungsverhältnis zwischen Individuation, also der Ausbildung subjektiven Eigensinns und Assimilation. Die An- und Einpassung in die Konventionen sozialen Handelns und in die Zwänge sozialer Gegebenheiten.

 

Wie Stramms biografische Schilderung deutlich macht, sind die Anpassungs- und Assimilationszwänge mit dem Eintritt in das Fabrikregime unvergleichlich hoch. sodass ohnehin nur geringe Spielräume zur Ausbildung subjektiven Eigensinns vorhanden sind, deren Ausdehnung - auch das veranschaulicht Stramms Beispiel - nur unter größter Anstrengung gelingt und gegen größten Widerstand erkämpft werden muss. Nachdem Arbeit eines der zentralen Medium von Vergesellschaftung darstellt, wird an Stramm auch deutlich, dass eine erträgliche Balance zwischen Selbst- und Fremdbestimmung weniger von individuellen Potentialen als vielmehr von bestimmten Lebens- und Arbeitsumständen abhängt.

 

Paradoxa entfremdeter Industriearbeit

 

Und doch - und damit möchte ich meine Reflexionen beenden. kann die Arbeitssoziologie auch noch eine Erkenntnis beitragen, die man so nicht in Stramms Reflexionen finden Kann, aber die um die gesellschaftliche Bedeutung von Fabriksarbeit angemessen einordnen zu können. Es handelt sich gewissermaßen um ein zweifaches Paradoxon, einmal auf der Ebene  der konkreten Arbeit und das andere Mal auf der gesellschaftlichen Ebene.

 

Verschiedene soziologische Studien, so auch meine eigenen, zeigen, dass sich Industriearbeit nicht auf die eben besprochenen negative Zwangsmomente reduzieren lässt: Selbst die entfremdeste Tätigkeit enthält für die ArbeiterInnen noch Möglichkeiten der Selbstbestätigung durch Selbstbewertung. Denn Arbeit, auch die entfremdete Industriearbeit, hat gerade auch für ArbeiterInnen einen zentralen. lebensstrukturierenden Wert. der ihrem Leben Halt, Stabilität und Sinn gibt, Ich kann dazu auch ein eindrückliches Zitat eines Arbeiters aus Stramms Werk beisteuern (ich habe nämlich Anfang der 2000er Jahre dort für ein Forschungsprojekt Interviews gemacht). Mit dem Satz: ''A wenn's bled klingt. i oabeit gern. 11 (All, S. 8) entschuldigt sich dieser Arbeiter, der als gelernter Installateur 19 Jahre am selben Arbeitsplatz im Stahlwerk Schwerarbeit unter ungünstigsten Bedingungen (Monotonie, Staub, Schmutz, ... ) verrichtete gewissermaßen dafür, dass er diese Arbeit gern macht. D.h. das restriktive Fabrikregime führt nicht zu einer gleichgültigen, rein instrumentellen Haltung seiner Arbeit gegenüber, sondern dazu, auch dieser Form von Arbeit einen Sinn abzuringen.

 

Das zweite Paradoxon ist auf der gesellschaftlichen Ebene angesiedelt. Die Stabilität von industrieller Beschäftigung (die v.a. in der verstaatlichten Industrie sehr hoch war), sowie deren sozialrechtliche Ausgestaltung (div. Sozialleistungen) hatte in den unterprivilegierten sozialen Milieus, eine besondere Bedeutung. Es war nämlich die Bedingung dafür, erstmals in der Geschichte die sog. Grenze gesellschaftlicher Respektabilität zu überschreiten. Im Kern handelt es sich dabei um eine kulturelle Schranke. mit der sich die mittleren sozialen Milieus nach unten abgrenzen. Sie wird über Statussicherheit definiert, d.h. über die Fähigkeit geordnete und stetige Arbeits- und Lebensverhältnisse einzunehmen, und sich dadurch eine gesicherte und anerkannte soziale Stellung zu erwerben (Vester et al. 2001. S. 27/28), Die Industriearbeit im verstaatlichten Stahlwerk war daher in zweifacher Weise ein Synonym für Sicherheit. Stabilität und Berechenbarkeit in Bezug auf den Lebensentwurf und die Lebensführung von Arbeitern. Der relative hohe Lohn und die relative Sicherheit der Arbeitsplatz erlaubte ihnen eine vorausschauende Planung und damit auch eine Erhöhung ihrer Lebensqualität. Denn was vielfach vergessen wird: größere Anschaffungen (Hausbau, Wohnungseinrichtung ....) können von angelernten Arbeitern oft nur durch Vorziehen. also die Aufnahme von Krediten. und nicht aus den laufenden Einnahmen finanziert werden. Damit wird für viele bis zu einem gewissen Grad die (Vor) Verlegung der Zukunft in die Gegenwart möglich. Dazu sind allerdings stabile Beschäftigungsverhältnisse erforderlich. Ich kann diese soziologischen Befunde auch aus eigener Erfahrung bestätigen, denn für meine Mutter (Alleinerzieherin von vier Kindern) war die gesicherte Arbeit im Werk nicht nur die Basis für die halbwegs stabile Entwicklung unserer Familie sondern auch für inre Anerkennung, zumindest in Mürzer Kaffehaus-Gesellschaft, die in überwiegendem maß von mittelschichtigen Geschäftsfrauen bevölkert wurden.

 

Es handelte sich also um eine Art sozialen Tausches: Unterwerfung unter die Zumutungen entfremdeter Industriearbeit (bei gleichzeitigem Abgewinnen positiver, sinnvoller Seiten) im Gegenzug zur Erreichung eines bestimmten Grades an Wohlstand und Sicherheit sowie betrieblicher und gesellschaftlicher Anerkennung. Die Rückkehr sozialer Unsicherheit in die Mitte der Gesellschaft in Form von Langzeitarbeitslosigkeit, prekärer Beschäftigung und des Rückbaus sozialstaatlicher Sicherungen seit Ende der 80er Jahre hat diese Situation mittlerweile entscheidend verändert und man kann von einer Aufkündigung dieses sozialen Tausches sprechen - was übrigens, wie unser Forschungsprojekt ergab, einer der Mitgründe für den Anstieg der Attraktivität des Rechtspopulismus unter ArbeiterInnen ist.

 

Schluss:

 

Auch wenn Fabrikarbeit im Zeitalter der Wissens-. Informations- und Dienstleistungsgesellschaft als Relikt einer im Vergehen begriffenen Epoche verstanden und IndustriearbeiterInnen der Status einer aussterbenden Spezies attestiert wird, ist Stramms repetitive Erzählung dennoch keine ausschließlich historische Angelegenheit, sondern ein eminent aktuelles Buch. Denn auch wenn die Digitalisierung die Präsenz von Fabriksarbeiterlnnen in den Produktionshallen tatsächlich merklich ausdünnen wird, so sind die Arbeitsregime die die weitläufigen Niederungen der diversen Dienstleistungssektoren abseits der Hochqualifizierten dominieren, der von Stramm geschilderten Charakteristik der Fabrikregimes nicht unähnlich. Darüber hinaus gibt es in der Soziologie ernstzunehmende Stimmen, die im Zeichen einer zunehmenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche von einer Refeudalisierung der Arbeitswelt sprechen. Stramms Geschichte kann auch dazu erhellende Einsichten liefern.

 

 

 

 

 

Werner Lang, ihr Buch "Stramm" ist ganz ungewöhnlich und außerordentlich - es hat mich fasziniert, wie Sie die eigenen Arbeitserfahrungen und die negative soziale, kapitalistische Entwicklung in Österreich in Ihren Text integriert haben! Es gibt meines Wissens nichts Vergleichbares in der Literatur der Arbeitswelt. Und die Verbindung mit den tollen
aussagekräftigen Fotos ist eine hervorragende Ergänzung.
Erasmus Schöfer

Das Buch "Stramm" (Geschichte der Industriearbeit) ist im Buchhandel in Wien erhältlich:

Brigitte Salanda, a.punkt € 18,- bis 30.5. ab 31.5 21 Euro)

 

Ab Dienstag 19.05.2020

 

Di–Fr 11–18:30 Uhr, Sa 10–17 Uhr

 

01 532 85 14

 

Fischerstiege 1–7
A–1010 Wien

 

 

 

tiempo nuevo € 18,- bis 30.5. ab 31.5 21 Euro)

 

mo – fr von 10 – 18 uhr, sa 10 – 15 uhr.
taborstrasse 17A
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Libreria Utopia € 18,- bis 30.5. ab 31.5 21 Euro)

 

Ab Mittwoch 20.05.2020

 

Mi–Fr 14–18, Sa 12–16 Uhr

 

Preysinggasse 26 - 28/1

 

U3 Schwenglerstraße, Ausgang Stättermayergasse

 

0660 3913865

 

1160 Wien

 

 

 

Rotes Antiquariat Wien € 18,- bis 30.5. ab 31.5 21 Euro)

 

Ab Dienstag, 19.5.20, zwischen 15 und 19 uhr

 

Florianigasse 36

 

Di, Do, Fr 15–19, Sa 11–16 Uhr

 

rote.galerie.wien@gmx.at

 

01 4023762

 

1080 Wien

 

 

 

Lhotzkys Literaturbuffet  € 18,- bis 30.5. ab 31.5 21 Euro)

 

Ab Dienstag 19.05.2020

 

Di-Fr 13:00-18:00 Sa 9-13 Uhr

 

06991 5851668 / 01 2764736

 

Rotensterngasse 2

 

1020 Wien