Aus „Stramm“ Erzählung

Einmischungsversuch

… Wie im Tagtraum taucht der Unfall immer wieder als Bildkette in seinem Kopf auf, obwohl er gar nicht direkt daran beteiligt war. Meistens dann, wenn er müde wird. Dieser Unfall muss jetzt schon sechzehn Jahre her sein, dachte er sich. Früher, als er noch zu seiner Stammtischrunde ging, musste er bei jeder Gelegenheit darüber erzählen. Stramm wusste, dass er diese Erinnerungsbilder nicht erzählerisch in einer Gruppe von Menschen übersetzen konnte. Seine Hände fingen dabei zu zittern an. Seine Wörter rissen inmitten des Sprechens immer wieder ab, und daher erzählte er immer so davon, als ob er diesen Unfall aus seinem Fachkundeheft für metallverarbeitende Berufe hätte, und ihn in einer Berufsschule vortragen müsste.

Die freie Erzählung, die für andere wahrscheinlich ein Genuss war, war bei Stramm ungefähr so wie seine Vorträge in der Berufschulzeit, behaftet mit all seinen Ängsten, das auswendig Gelernte nicht frei schildern zu können: „Es ging um die Erzeugung von Walzprodukten für Sonderstähle, Rost-, säure-hitzebeständige Stähle. Spezialitätenstähle wurden sie auch genannt. Das erreicht man durch Legierungen. *Besondere Legierungsbestandteile im Stahl erfordert eine besondere Handlungsweise, die einen besonderen Verkaufspreis nach sich zieht“, versuchte er erklärend einzuleiten. „Das konnten nur sehr wenige Firmen. Meistens Aufträge von Waffen- und Atomkraftwerksproduzenten. Also eine Marktlücke. Der Nachteil war eine über den Durchschnitt häufige Beschädigung von Material, Maschine und Arbeitskraft. Zum Beispiel“, erzählte er weiter, „stand ein Walzer mit seiner Walzzange zu nahe neben einem gezogenen fehlerhaften Walzstab, das heißt, der Stabstahl war auf der Seite aufgerissen und spaltete sich V förmig in zwei Teile, als er noch knapp über 800 Grad Celsius auf den Walzer zukam, so konnte es passieren, dass dieser Walzstab dem Walzer den Bauch aufriss. Wenn das passierte, musste alles ganz schnell gehen. Bei dem Teil des Unfalls, den er mitbekam, wurden gerade die Gedärme dem Walzer vom nächsten Hilfsbereiten in den Bauch reingedrückt und solange zugehalten, bis die Rettung kam. Das Blut wurde danach wegen Rutschgefahr“, so erzählte er, „weggewaschen, und die Arbeit wieder aufgenommen. Der Produktionsablauf konnte so meistens ohne Verlust aufrechterhalten werden“. Um diese Geschichte einigermaßen für seinen Stammtisch zu retten, erzählte Stramm danach noch von einem jungen Ingenieur, der unmittelbar nach dem Unfall der Belegschaft mitteilte, dass natürlich nachgeforscht werde, wie es zu diesem Unfall kommen konnte. Aber eines könne er jetzt schon sagen: Solche Materialfehler müssen nicht unbedingt zu Unfällen führen. Wenn der Walzer ein normal rhythmisches Gefühl gehabt hätte, wäre das nicht passiert. Jeder normale Mensch könnte jederzeit mit dem Lauf des Walzvorgangs mithalten. Meistens wurde dann daraufhin gelacht. Als der Ingenieur es beim Unfall sagte, lachte keiner, konnte Stramm sich noch erinnern. „Ja, die haben eine ganz besondere Stellung“, schloss einmal – aber erst nach oftmaligem Nachdenken darüber – Stramm daraus. „Denn das oberste Gebot für die Ingenieure muss wohl sein: Was auch in der Werkshalle passiert, man darf als Ingenieur nicht mit Hand anlegen, sonst verliert man an Respekt vor den Arbeitern“. „Oder ob jeder schon weiß, dass der Mensch an die Produktion angepasst wird und nicht umgekehrt“, schoss es Stramm, als er es ein anderes Mal erzählte, durch seinen Kopf. Das hatte er aber gleich danach wieder vergessen. Es war so, als ob seine meisten Einfälle gleich danach auf den Boden fielen und danach weg waren. Es trifft wohl auch zu, was sein Vorarbeiter vom Walzwerk sagte, dass es die Aufgaben der Ingenieure ist, Unfallursachen immer als persönliches Versagen und nie als Folge des erhöhten Arbeitsdrucks hinzustellen.

Aber warum Stramm diese Geschichte immer wieder einfiel und sogar immer wieder erzählte, weiß er nicht mehr. Sie wurde auch nach mehrmaliger Wiederholung sprachlich nicht besser. Vielleicht sollte jemand merken, dass etwas nicht stimmt. Aber was schon? Oder war es nur eine Antwort auf die abenteuerlichen Geschichten, die Stramm sich früher, als er noch zu seinem Stammtisch ging, immer wieder anhören musste, die aber niemand glaubte, aber jedem gefielen, außer Stramm, so scheint es. Denn er erzählte nie, dass der Ingenieur auch sagte, dass die Walzzagen nur mehr im Edelstahlbereich verwendet werden, da das hochwertige Material sich nicht so einfach walzen lässt wie Baustahl. „In kommerziellen Walzbetrieben verwendet man schon seit Jahren keine Walzzangen mehr, alles ist automatisiert. Wenn wir die ersten wären, die keine Walzzangen mehr brauchen, dann könnten wir wieder auf den Weltmarkt mithalten. Der Betreib wird danach wesentlich wirtschaftlicher dastehen, als jetzt. In ein paar Jahren wird das auch soweit sein“, meinte der Ingenieur damals schon. Kann es sein, dass er vergessen hat zu erwähnen, dass hinter jeder Walzzange ein Mensch steht, oder ist das für die Ingenieure wahrscheinlich nur eine Kostenfrage, überlegte sich Stramm: Walzzange plus Arbeitskraft eingespart.

Als er wieder einmal von dem Unfall im Walzwerk erzählen wollte, sagten ihm seine Anwesenden beim Stammtisch, dass er mit dieser Geschichte aufhören soll, die interessiere doch keinen mehr. Und sie wollen in der Freizeit nicht immer an die Arbeit erinnert werden. Es gebe ja noch etwas Spannenderes.

Er erzählte diese Geschichte später nur mehr dann, wenn er annahm von den Anwesenden kenne sie noch keiner,  und alle anderen schon eine Geschichte erzählt hatten. Jetzt erzählt er sie nicht mehr.

Wem schon? Stramm hat keinen Menschen. Die Menschen haben Stramm, musste er, bevor er seinen Stammtisch verließ, erkennen.

Was er bei diesem Stammtisch suchte weiß er nicht. Wahrscheinlich erinnerte es ihn an dem Stammtisch von seinem Bruder, zu dem er auch noch einige Male hinging, als er schon hundert Kilometer entfernt in der Hauptstadt wohnte und sonntags seine Eltern besuchte. Nachdem seine Eltern gestorben waren, fuhr er nicht mehr in seine Geburtsstadt. Als Stramm Else Nelke kennenlernte, ließ es sogar seine Zeit nicht mehr zu. Nach dem Tod seines Bruders brach er jeden Kontakt mit seiner Heimatstadt ab. Aber einen solchen Stammtisch, wie der von seinem Bruder, fand er nicht mehr, auch wenn die Anwesenden dort alles besser wussten. Die wussten wenigsten was.

Es schmerzte ihn auch, dass er über seine Erlebnisse, die ihm in seinem Körper hängen blieben, nicht erzählen konnte. Seine Sprache reichte dafür nicht aus.

 

Aber welchen Einwand er auch trotzdem brachte, allgemein musste er sich von jedem anhören, dass alles was er erlebte, jeweils nur ein kleines Erlebnisbild vom großen Ganzen ist. Die Wirklichkeit, so wie sie Stramm erlebte, gar nicht so ist, denn alles ist viel komplizierter. … Seite 27, 28, 29, 

Werner Lang, ihr Buch "Stramm" ist ganz ungewöhnlich und außerordentlich - es hat mich fasziniert, wie Sie die eigenen Arbeitserfahrungen und die negative soziale, kapitalistische Entwicklung in Österreich in Ihren Text integriert haben! Es gibt meines Wissens nichts Vergleichbares in der Literatur der Arbeitswelt. Und die Verbindung mit den tollen
aussagekräftigen Fotos ist eine hervorragende Ergänzung.
Erasmus Schöfer

Das Buch "Stramm" (Geschichte der Industriearbeit) ist im Buchhandel in Wien erhältlich:

Brigitte Salanda, a.punkt € 18,- bis 30.5. ab 31.5 21 Euro)

 

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U3 Schwenglerstraße, Ausgang Stättermayergasse

 

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Rotes Antiquariat Wien € 18,- bis 30.5. ab 31.5 21 Euro)

 

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Florianigasse 36

 

Di, Do, Fr 15–19, Sa 11–16 Uhr

 

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Lhotzkys Literaturbuffet  € 18,- bis 30.5. ab 31.5 21 Euro)

 

Ab Dienstag 19.05.2020

 

Di-Fr 13:00-18:00 Sa 9-13 Uhr

 

06991 5851668 / 01 2764736

 

Rotensterngasse 2

 

1020 Wien